TAROT HEUTE
Verbandszeitung des Tarot e.V.
Ausgabe 2 – April 2004
TAROT HEUTE
ISSN 1613-6675
Verbandszeitung des Tarot e.V.
c/o Annegret Zimmer
Thomasiusstr. 30 06110 Halle
Staunende Klienten
Von Ernst Ott
„Unglaublich! Genau so ist es!“ ruft die Klientin bei der Tarot-Legung, „diese Karte trifft genau die Situation meiner Beziehung, und mein Mann verhält sich genau so wie auf dieser anderen Karte!“ Zur Tarot-Beraterin sagt die Klientin: „Ich hab‘ Ihnen fast nichts über mich erzählt, und dennoch wissen Sie genau, was mit meiner Ehe los ist; das erscheint mir wie ein Wunder!“
Tatsächlich ist es rational nicht leicht erklärbar, warum die Klientin aus den verdeckten 78 möglichen Karten genau solche gezogen hat, in denen sie ihre Situation optimal gespiegelt sieht. Dieser geheimnisvolle Effekt wiederholt sich beinahe in jeder Tarot-Sitzung. Vielleicht muss man nicht an ein „Wunder“ glauben, aber wer es persönlich erlebt, ist immer wieder erstaunt über diesen Mechanismus, darüber, wie „stimmig“ die gezogenen Karten sind. Es wäre interessant, einmal die Theorien zu diskutieren, welche den Tarot-Prozess zu erklären versuchen. Doch an dieser Stelle soll es nur um das Staunen an sich gehen. Ähnlich wie die Neugier und die Offenheit ist auch das Staunen eine sehr erkenntnisfördernde Kraft. Kinder lernen bekanntlich in den ersten Lebensjahren weit mehr als wir Erwachsene im gleichen Zeitraum. Kinder sind Meister im Staunen. Sie haben die Gabe, eine Situation als völlig neu zu akzeptieren, sich davon begeistern und anrühren zu lassen. Nicht nur intellektuell, sondern auch mit dem Herzen öffnen sie sich im Staunen der neuen Erfahrung.
Eine staunende Klientin ist ganzheitlich angesprochen. Dies ist ein äußerst wünschenswerter Zustand, bei dem die kreativen und problemlösenden Persönlichkeitsanteile aktiv werden können. Dies erscheint in der Beratung besonders wichtig, weil so die Klientin beim Entwickeln von Lösungen aktiv teilnehmen kann. Wie in der Psychologie und in der Astrologie ist auch bei der Tarotsitzung wichtig, dass Beraterinnen und Berater nicht mit fertigen Lösungen aufwarten oder gar mit Ratschlägen um sich schlagen. Mitglieder des Tarot e.V. sehen es vielmehr als ihre Aufgabe, ein Gesprächsklima zu schaffen, bei welchem die Klientinnen und Klienten selber auf Lösungen kommen können. Aus einer Haltung des Staunens heraus entstehen oftmals neue Ideen; es ist eine Atmosphäre der Freude und der Offenheit. Vielleicht sieht nun die Klientin ihre Partnersituation in einem neuen Licht oder sie erkennt eine Verhaltensweise an sich, die sie lieber ändern möchte usw. Nach meiner persönlichen Beobachtung gibt es in der Tarot-Arbeit mit Klienten allerdings verschiedene Arten des Staunens, konstruktive, aber auch weniger wünschenswerte.
Worüber könnten Klientinnen und Klienten staunen? Das erste Staunen bezieht sich direkt auf die Tarotkarten: die Karten „passen offensichtlich“, sie sind „stimmig“ oder erscheinen als „verblüffend richtiger Kommentar“ zur Situation der Fragesteller. Welcher sinnreiche „Zufall“ steuert die Wahl der Karten? Dieses positive Staunen entspricht der freudigen Erkenntnis, dass eine rational schwer erklärbare Methode in der Praxis offenbar bestens funktioniert. Manche Tarotspieler haben bei den ersten Legungen auch ein Gefühl, „erkannt zu sein“. Sie fühlen sich von einer unsichtbaren Instanz angesprochen, vom Orakel oder einer Art höheren Führung. Religiöse Erklärungen sind jedoch immer Geschmackssache – oder sollten dem Klienten zumindest nicht vom Berater aufgedrängt werden. Deshalb sage ich oft zu Klientinnen oder Klienten: „Gehen wir einfach mal von der Arbeitshypothese aus, dass Ihr Unbewusstes oder Ihre innere Weisheit sich über die Karten äußert.“
Klienten, denen dies einleuchtet, werden nach einer gelungenen Kartenlegung zuletzt über sich selber staunen, denn die neue Perspektive oder die Problemlösung ist ja aus Ihnen selbst gekommen. Da mein Ziel immer die Eigenverantwortung der Klienten ist, gefällt mir das Staunen der Klienten über sich selber und über die Originalität ihrer inneren Bilder (der gezogenen Tarotkarten) ganz besonders. Ich lege auch Wert darauf, dass ich nicht stellvertretend die Karten ziehe, sondern die Klientin oder der Klient dies selber tut.
Klienten könnten aber auch über die Tarot-Experten staunen, weil diese so viel wissen und so großartige Ratschläge geben. Dieses Staunen nützt in erster Linie dem Selbstwertgefühl von uns Beratern. Ich habe zwar nichts dagegen, dass Berater ein gutes Selbstwertgefühl erwerben, aber dafür ist natürlich nicht in erster Linie der Ratsuchende zuständig. Psychologisch gesehen schafft jede Bewunderung, die über das gewöhnliche Maß hinausgeht, ein Stück Abhängigkeit. Oberstes Ziel der Tarot-Arbeit sollte jedoch sein, die Klienten in ihrer eigenverantwortlichen Entscheidungskompetenz zu stärken.
Ein gutes Mittel, um in diese Richtung zu arbeiten, besteht darin, nicht sofort mit der Kartenlegung anzufangen und irgendwelche Bilder und Deutungen aus dem Hut zu zaubern, sondern vorher ein Gespräch zu führen:
• Was erwarten Sie konkret vom Tarot?
• Was erwarten Sie von mir als Berater?
• Wie denken Sie über den Tarot?
• Wer gibt Ihrer Meinung nach hier die Antworten auf Ihre Fragen?
Wer gelernt hat, Tarot als Bildersprache des Unbewussten zu sehen, wer daraufhin mit eigener Hand die Karten zieht, vielleicht sogar selber mit-deutet und interpretiert, seine eigenen Reaktionen auf die Karten analysiert und in die Entscheidung mit einbezieht, so jemand wird – falls während der Sitzung zuletzt eine konstruktive Lösung entsteht – am meisten über sich selber staunen.
Gewiss ist auch die archtetypische Wahrheit der Tarotkarten selber staunenswert, möglicherweise zusätzlich auch die Deutungskompetenz der Expertin oder des Experten, beide sind aber letztlich nur Hilfsmittel. Eigentlicher Inhalt der Tarot-Arbeit sind die Klienten selber, ihre noch vorborgene innere Weisheit, ihre bisher noch schlummernden Talente, ihre nun erst ans Licht getretene Kreativität in der Lösung der eigenen Probleme. Eine Faustregel besagt, dass meist mit dem Auftreten eines Problems gleichzeitig noch etwas anderes zu wachsen beginnt, nämlich die Fähigkeit, dieses Problem zu lösen. Ein solches Wachstum beginnt innen und kann schon früh in bildhafter Form erkannt werden, etwa in Träumen oder mittels der Bilder des Tarot.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schön, wenn jemand den Tarot oder gar uns Berater bewundert und bestaunt. Eine noch tiefere Freude erfahren wir jedoch, wenn wir Zeuge werden, wie Mitmenschen durch unsere Arbeit beginnen, sich selbst und ihre innere Weisheit zu bewundern. Führen wir die Klientinnen und Klienten dazu, dass sie über sich selber staunen!